Tim (1. Teil)
Tim wird sicherlich „der Hund meines Lebens“ bleiben, wie ich es einmal umschrieben habe. Diese Fülle an Tränen bis oft genug nahe eines Nervenzusammenbruchs und auf der anderen Seite unsagbare Freude und Erstaunen wird mich wahrscheinlich kein Hund der Welt mehr kosten, soviel steht für mich fest.
Tim holte ich am 13.Juli 1989 aus einem Tierheim, nachdem ich es nach Balus Tod genau einen Tag ohne Hund ausgehalten hatte. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Vierbeiner ich an diesem Tag in vier verschiedenen Tierheimen anschaute. Es waren ziemlich viele gewesen, aber sie erfüllten alle nicht meine Erwartungen. Mein Hund musste mindestens Schäfergröße haben, laufen können und in meinen Augen hübsch sein. Wobei diese Spannweite angesichts meiner verschiedenen Hunde recht weit zu fassen ist. Auch ein Hovawartwelpe wäre in Frage gekommen, aber eine Wartezeit von einigen Monaten, wie es damals üblich war, das konnte ich jetzt keinesfalls überstehen.
Ein letzter Anruf um 17:00 Uhr informierte mich über einen Collie-Schäfermix, der vor zwei Tagen auf der Autobahn aufgegriffen worden war. Eine Stunde später stand ich vor seinem Zwinger und sofort wusste ich, dass die Suche ein Ende gefunden hatte. Obwohl das eigentlich blödsinnig war: Der Rüde stank wie die Pest, sah schrecklich verwahrlost und unterernährt aus, hatte eine gebrochene Zehe (die Kralle steht nach oben ab) und – er hinkte.
Im Büro rannte er herum wie von der Tarantel gestochen, beachtete keinen Menschen und wollte schließlich nur noch eins: raus und ins Auto. Ich staunte nicht schlecht, was dieser dünne Kerl für eine Kraft aufbrachte, während ich noch die Stimme der Heimleiterin im Kopf hatte: „Das ist ein ganz Lieber!“ „Das wird sich erst noch zeigen!“ dachte ich und in den kommenden Wochen habe ich mir oft gewünscht, ihr „Tim“ zurückbringen zu können, was meine Sturheit aber verbot bzw. das Wissen, dass Tim dann nicht mehr lange zu leben hätte.
Er hieß also jetzt Tim. Wir schätzten ihn auf fünfeinhalb oder sechs Jahre (Nicht eineinhalb wie am Telefon oder drei wie vor Ort laut Tierheim). Ich überlegte, wie lange es wohl dauerte, einen Hund durch schlechte Fütterung zu so viel Zahnstein zu verhelfen. Man sah tatsächlich die Zähne nicht mehr! Wir ließen sie abschleifen, fütterten ihn anständig und bürsteten ihn ausgiebig, wobei dies schon die erste Schwierigkeit mit sich brachte.
Tim hatte Panik vor jedem Anfassen, vor jedem Wort, ja, vor jedem Versuch, sich mit ihm zu befassen. Er sprang sofort auf, wenn jemand sich näherte und immer hatte er diesen gehetzten Ausdruck an sich. Wie ein Wildtier, das man in eine fremde Umgebung setzt. Er war hektisch, aber es sollte noch Tage dauern, bis Tim anfing „aufzutauen“. Im Haus bewegten wir uns alle vorsichtig, redeten ruhig vor uns hin und gaben Tim Zeit, die Dinge seiner Umgebung kennenzulernen.
Man brauchte nur etwas Stockähliches in die Hand zu nehmen und weg war er. Ein klapperndes Geräusch aus der Küche und er fing an zu bellen. Den Staubsauger wollte er umbringen. Draußen war er völlig orientierungslos, er konnte kein Bein heben, fürs Schnüffeln hatte er keine Konzentration und er zog an der Leine immer nur weiter, weiter… Nach einer Woche wurde es – nein, nicht besser, sondern schlimmer.
Er verbellte jetzt alles. Er stand am Fenster und bellte alles an, was er sah. Oder er hörte ein Geräusch von draußen und schoss an die Terrassentür und bellte. Menschen, außer der Familie, durften nicht mehr ins Haus. Er griff sofort an und verschwand dann geduckt, als ob er Prügel erwartete. Die Beziehung zu seinem Rudel dagegen war das einzige, was sich langsam stabilisierte. Eines morgens suchte ich ihn verzweifelt im Wohnzimmer („Oh Gott, er ist abgehauen!“) und fand ihn schließlich ganz klein zusammengekringelt in dem Sessel, in dem ich am Abend zuvor gesessen hatte.
Tim ist der einzige Hund, der bei uns aufs Sofa darf (allerdings nur auf Kommando). Es war sein erster Versuch, Anschluss zu finden und den konnte ich ihm ja schlecht verbieten. Für die Übungen „an ihm vorbeigehen“ geschweige denn „über ihn wegsteigen“ brauchten wir dafür noch sehr viel Geduld, Leckerlis und Kommandos „Platz“. Ich hielt ihm ein Futterstück nach dem anderen vor die Nase, während ich neben ihm stand. Vor lauter Hektik hätte er mir bald einen Finger abgebissen. Ganze 18 Monate (!) ist dieser Hund aufgesprungen, wenn wir näher kamen. Dann wurde es schrittweise besser und ist heute nur noch in ganz wenigen Fällen zu spüren. Trotzdem kenne ich keinen Hund, bei dem dieses Verhalten so lange und so intensiv angehalten hat.
Ich fing an, mit ihm „Sitz“ und „Platz“ zu üben. Meine große Schwierigkeit bestand in seiner Unfähigkeit, sich zu konzentrieren bzw. mich wenigstens mal zwei Sekunden anzuschauen. Ich hielt ihm das rohe Rindfleisch direkt vor die Nase, aber er beachtete es kaum. Wieder mit viel Geduld, Lob, Futter und deutlichen Handzeichen (erhobener Zeigefinger für Sitz, flache Hand mit Futter zwischen Daumen und Handfläche von der Nase des Hundes Richtung Boden für Platz) erreichten wir endlich Erfolge. Das Kommandolernen ging dann Schlag auf Schlag, innerhalb von sechs Wochen hatte Tim 30 verschiedene Kommandos (Hör- und Sichtzeichen) „drauf“.
Das einzig wirkliche Glück, was ich mit diesem Hund hatte, waren die zwei enorm lernfähigen Rassen, die er in sich barg. Das bedeutete allerdings auch, dass er alles für ihn scheinbar Negative sehr schnell mitbekam und Zusammenhänge herstellte. Meine Spaziergänge sahen dann ungefähr so aus: Zunächst ein Blick nach rechts und links, ob keiner kam. Dann Fuß auf den ersten Feldweg. Es folgte das erste hysterische Gekläffe Richtung Gänse, Tim wird zurechtgewiesen, daraufhin quasi als Antwort Gebelle in Richtung Schafe auf die andere Seite. Kaum ist er still (ich muss mich direkt vor ihm aufbauen, die Leine ganz kurz halten, wiederholt „Nein!“ sagen und ihm Futter unterjubeln), taucht ein Radfahrer auf. Unter Aufbietung aller Kräfte gelingt es mir, Tim in Sitz zu halten. Zumindest bis das Auto um die Ecke biegt. Sofort geht er wieder los, ehe ich überhaupt begreife, was jetzt wieder passiert ist. Die Frau mit Kinderwagen schenken wir uns und kehren um. Auf das Theater will ich es jetzt nicht mehr ankommen lassen! Zwischendurch immer wieder Korrekturen, weil er zieht, dann richtet sich sein Blick nach oben und er verbellt noch die Kondensstreifen.
Sie können sich solche Spaziergänge gar nicht vorstellen? Ich bis dahin ganz gewiss auch nicht. Hätte ich weiter über diesen Hund nachgedacht, hätte ich aufgegeben.
Gerade die gehetzten Blicke in den Himmel, die Rute wedelnd nach oben (Tim wedelte immer, wenn er angriff!), tänzelnd wie ein Araber, konnten einen zur Verzweiflung bringen. Man hatte schon genügend mit all den Dingen auf der Erde zu tun, dass Flugzeuge, Kondensstreifen, Vögel oder gar Heißluftballons es wirklich nicht auch noch hätten sein müssen.
Tatsächlich wurde Tim bei diesen „Begegnungen“ besonders aufgeregt und war kaum mehr unter Kontrolle zu bringen. Den Blickkontakt zu einem Auto oder Menschen konnte ich irgendwann unterbinden, indem ich auf der Stelle umkehrte oder mich direkt vor Tims Nase stellte, „Sitz“ befahl und ihn mit Futter ablenkte. Aber vor Kondensstreifen kann man sich nicht so leicht verstecken und je länger eine solche Konfrontation dauerte, umso aggressiver wurde Tim. Das war auch der Hauptgrund, warum ich Tim kaum in den Garten mitnehmen konnte. Er steigerte sich in einen Zustand hinein, indem er nicht mehr zu kontrollieren war.
Die Besuche auf der Wiese waren natürlich noch stressiger. Keiner durfte Tim ansprechen oder anfassen. Sah er einen Hund, griff er sofort an. Ihn für fünf Minuten anbinden, damit ich mir eine kurze Pause gönnen konnte, war unmöglich. Er drehte durch, weil er fest war und sich nicht wehren konnte. Selbst ich konnte es in einer solchen „Rotphase“ nicht wagen, ihm näherzukommen. Blind hätte er einfach um sich geschnappt und erst, wenn ich mich bemerkbar gemacht hatte und er sich auf meinen Befehl hinsetzte, ging ich zu ihm.
Schließlich hatte ich keine Kraft mehr (er nahm ja auch im Laufe der Zeit sechzehn Pfund zu) und ein Halti musste her, was er glücklicherweise sehr schnell akzeptierte. Mit Fingerspitzengefühl zwang ich ihn wenigstens sekundenweise, mich anzuschauen, wofür ich ihn dann sehr lobte. Solange er meine Anwesenheit überhaupt nicht registrierte, konnte er doch nichts lernen!
Die Wochen vergingen und in vielen Dingen wurde Tim besser, in anderen dafür schlimmer. So klappte das Passieren von Kuh- oder Pferdewiesen und Radfahrern bald recht gut. Wir zwei ließen uns Zeit, machten Futterspiele unterbrochen von Sitz und Fuß und übten direkt neben den Kühen. Anfangs ging er alle paar Sekunden los, dann wurde das weniger und hörte endlich ganz auf. Durch diese ständigen Wiederholungen merkte Tim, dass die Kühe ihm nichts taten, er wurde sicherer. Für Radfahrer, „normale“ Spaziergänger oder andere Tiere galt dasselbe. Auf freiem Feld beruhigte er sich, er lernte das Beinheben und Schnüffeln und Fußgehen klappte hervorragend.
Probleme hatte ich mit dem Rufen. Tim lief mittlerweile bei freier Sicht an der zehn Meter Leine, rief ich ihn, blieb er bald sogar prompt stehen. Aber nur nach langen Bitten kam er in einem großen Kreis immer schräg von hinten auf mich zu, niemals in direkter Linie. Ich hockte mich hin, fütterte ihn mit Wurst und lobte ihn jedes Mal überschwänglich, aber das einzige, was er wollte, war wieder von mir wegzukommen. Auch dieses Verhalten hat endlos angehalten – ansatzweise sogar über drei Jahre. Rufen bedeutete für ihn etwas Unangenehmes und kein Mensch der Welt konnte ihn vom Gegenteil überzeugen!
Innerhalb der Familie im Haus dagegen war er ein großer Menschenfreund geworden, der gerne gekrault werden wollte. Auf dem Rücken blieb er vertrauensvoll liegen und bettelte um mehr Aufmerksamkeit. Aber das alles natürlich nur, wenn ihn keiner von draußen störte. Ein Laut und der Zauber war vorbei.
Wir haben sowohl nach vorne als auch nach hinten raus Glastüren und Tim und ich übten – stundenlang. Ich darf keinen Menschen anbellen, kein Auto, keine Müllabfuhr und keinen Vogel. Wenn wir im Wohnzimmer saßen, musste Tim neben uns liegenbleiben und durfte nicht ans Fenster. Es war sehr nervenaufreibend und ohne Leine anfangs gänzlich unmöglich. Mussten wir ihn allein lassen, sperrten wir ihn so ein, dass er möglichst wenig von draußen mitbekam. Ansonsten hatten wir einen völlig gestressten Hund, wenn wir wiederkamen.
Vieles schafften wir, anderes für lange Zeit nur in minimalen Verbesserungen. Es war ja kein gewöhnliches Bellen, was Tim da von sich gab, sondern ein Durchdrehen, dass die Gardinen in Fetzen hingen und die Blumentöpfe zu Boden gingen (Die schöne alte Vase!). Sobald er draußen außerdem kapiert hatte, dass es auch so etwas wie Hasen und Fasanen gab, hatte er ein zusätzliches Angriffsziel gefunden. Er lief nicht einfach wie ein jagender Hund los, sondern wurde richtiggehend aggressiv. Er schoss in die zehn Meter lange Leine und überschlug sich fast dabei. Ohne Handschuhe konnte ich gar nicht gehen, weil ich ihn Meter für Meter „einholen“ musste. Von selbst kam er nicht zurück.
Selbst dass er sich zigmal sehr weh getan haben muss, überzeugte ihn lange nicht, auf „Nein, Tim“ bei mir zu bleiben. Auch hier dauerte es wieder endlos, bis Tim überhaupt aufnahmefähig für ein Lernen wurde.
Mit dem Autofahren war es dasselbe. Im Wagen war es eng und jeder Mensch und jeder Hund stellte eine Bedrohung dar. Also bellte er in einer Tour. Ich kaufte eine geschlossene Box und gewöhnte ihn langsam daran. Was viele als Tierquälerei ansehen, war für Tim die letzte Rettung. Er liebte seine Box, fühlte sich in ihr sicher und später schlief er sogar in ihr ein. Ansonsten tat er das außerhalb des Hauses nie und er hätte noch nicht einmal die Ruhe aufgebracht, auch nur die Schnauze zum Dösen auf den Boden zu legen!
Er liebt sein Auto auch heute noch grenzenlos und fährt schon vom ersten Tag an gern. Aber auf einer Autobahnraststätte holte ihn die Vergangenheit wieder ein. Es war unmöglich, ihn aussteigen zu lassen. Man konnte ihn kaum halten, er trank nichts, erledigte kein Geschäft und wollte nur wieder weg.
Für das Gelassenbleiben in einer Situation musste ich dagegen jahrelang kämpfen. Tim war geschlagen worden, daran gab es keinen Zweifel. Er kannte überhaupt nichts auf dieser Welt, also hatte er vermutlich jahrelang in einem Keller oder Hinterhof gelebt. Dazu kamen aber noch zwei Dinge. Erstens sein Hass auf Kinder bis ins hohe Alter. Er ist sicherlich von Kindern böse geärgert worden. Zweitens sein Verhalten gegenüber dem Hundeplatz in unserer Nähe. Nur ein lautes „Hier“ oder „Platz“ von draußen gebrüllt und Tim hätte uns gebissen, wenn wir ihn angefasst hätten. Wir ließen die Rolladen bis zum Anschlag runter und stellten den Fernseher so laut, wie wir es ertragen konnten, aber Tim bekam trotzdem alles von draußen mit. Es wurde erst besser, als ich ihn an die Leine nahm, ihn zum Liegen zwang und ihm immer wieder mit Futter und Kommando bestätigte. Das war stundenlange Arbeit über Monate hinweg, aber es hat sich gelohnt. Man kann nicht sagen, dass ihn das Geschrei nicht mehr interessiert, aber er beruhigt sich nach einer Ermahnung meinerseits recht schnell und schläft dann sogar ein.
Gewitter und Sylvesterknallerei waren und sind für Tim nach wie vor eine schlimme Sache. Denn selbst da versteckte er sich nicht, sondern kämpfte dagegen an. Zwar sind diese Situationen wesentlich besser mit ihm geworden und kaum mehr zu vergleichen, aber ohne dauernd wiederholte Kommandogabe geht es nicht.
Für Hunde und Menschen brachte er nach wie vor überhaupt kein freundliches Empfinden entgegen. Er registrierte weder eine läufige Hündin noch eine freundliche Spielaufforderung. Schaute ihn irgend jemand, ob Mensch oder Tier, gerade an, so war dies als Angriff zu werten. Also beachtete ihn kein eingeweihter Mensch mehr und das war schließlich das einzige, was zum Erfolg führte. Ab und zu bekam er im Vorübergehen einen Brocken Futter zugeworfen, aber das hielten wir in Grenzen.
Soweit Tims Leben im ersten Jahr bei uns.