Vom Umgang mit aggressiven Hunden

Ich beobachte einen kräftigen Schäferhundrüden mit seiner Besitzerin. Die beiden arbeiten spielerisch miteinander. Sitz, Platz, Fuß ist gefragt und zur Auflockerung zwischendurch ein wenig Futtersuchen. Nur einen Moment werde ich abgelenkt, dann drehe ich mich wieder zu dem Gespann um und erstarre in der selben Sekunde: Der Rüde steht hoch aufgerichtet auf den Hinterbeinen neben der Frau, grollt in den tiefsten Tönen und unmissverständlich, während die Besitzerin minutenlang (so kommt es mir jedenfalls vor) mit einer Hand am Halsband, mit der anderen am Halti versucht, den Hund auf alle vier Pfoten zu bekommen.

Das Erlebnis ist etliche Jahre her und damals begriff ich zum ersten Mal, was das in Natura bedeutet: ein aggressiver Hund.

Der Begriff „Aggression“ ist zunächst einmal völlig wertfrei, er ist weder gut noch böse. Aber wenn wir heute umgangssprachlich von aggressiven Hunden sprechen, meinen wir meist ein überzogenes Verhalten gegenüber Mensch, Tier, vielleicht auch Gegenständen und Situationen. Schnell kann ein solcher Angriff gefährlich werden.

Die Ursachen für ein aggressives Verhalten liegen oft in der Vergangenheit. Wenn wir Glück haben, sind sie uns bekannt. Oft können wir aber nur raten und müssen schlechte Erfahrungen von genetischen Anlagen auseinanderhalten.

Reagiert der Hund aus Angst, weil er einmal von einem andern Hund gebissen wurde? Weicht er aus, würde er am liebsten fliehen, wehrt er sich nur? Oder ist er eher ruhig und unnahbar, steht er oft da wie eine Statue, nur um auf seine Chance zu warten und dann so schnell zu reagieren, das hinterher keiner mehr weiß, was eigentlich geschehen ist?

Dazwischen gibt es noch etliche andere Variationen und viele Faktoren, die man abklären muss, will man an dem Verhalten des Hundes etwas ändern: Alter, Rasse, Herkunft, Gesundheit, aber auch die Einstellung des Besitzers. Das Ganze ist kompliziert und nicht selten braucht es Monate, um die Geheimnisse zu lüften und Erfolge auch dauerhaft zu verbuchen.

Der eben erwähnte Schäferrüde meinte es ernst. Bei einer anderen Gelegenheit hat er noch ein paar Meter Anlauf genommen, um sein Frauchen zu attackieren. Die Ursache für ein solches Benehmen? Falsche und zu harte Behandlung des Hundes durch andere Familienmitglieder, mangelnde Integration in das Rudel und Rangordnungsprobleme. Das ist alles, mehr braucht es nicht, denn diese Fehler sind für eine Hundeseele schon sehr arg. Das Schlimme war eigentlich, dass die Besitzerin in diesem Fall völlig unschuldig war, sie durfte die Fehler nur ausbaden. Sie hat es übrigens geschafft – mit großer Konsequenz, Schnelligkeit, eisernem Willen und nicht zuletzt durch viel Mut!

Ein anderes Beispiel: Ein Mischling wird aus dem Tierheim erworben. Man wagt den Versuch und lässt ihn in der friedlichen Hundegruppe befreundeter Besitzer frei laufen, immer in der Erwartung, dass gleich etwas passieren könnte, aber alles verläuft gut.

Nur einen Tag später geht man mit dem Rüden und einer Hündin spazieren. Nach wenigen Metern rastet der Hund restlos aus und greift an.

In vielen Büchern findet man die Darstellungen vom Großwerden, Nackenhaare stellen und Fixieren und viele Leute sind leider der Ansicht, das sei alles, was man zu diesem Thema wissen muss. Die eben hier erwähnten Beispiele beweisen aber, dass es nicht immer so einfach ist. Wie kommt ein Rüde dazu, plötzlich aus heiterem Himmel eine Hündin anzugreifen?

Dazu muss man wissen, dass das Leben im Tierheim und dann auch noch die Umstellung von Heim auf ein „normales Zuhause“ eine enorme psychische Belastung darstellt. Die meisten Vierbeiner erleiden eine Art Schock und reagieren erst einmal zurückhaltend und abwartend. Bei einigen hat man auch das Gefühl, sie wissen überhaupt nicht, was um sie herum genau passiert. Von dem Freilauf in der ihm fremden Hundegruppe war der Rüde wahrscheinlich wie erschlagen. Erst als er allein mit der Hündin war, gewannen seine Lebensgeister wieder die Oberhand und er griff an.

Dass ein Rüde eine Hündin angreift, ist gar nicht so selten bei verhaltensgestörten Hunden. Ihnen ist es völlig gleich, welches Geschlecht der Gegenüber hat. Ehe sie überhaupt den Versuch machen, den anderen einzuordnen, gehen sie – meist zur Selbstverteidigung – lieber zum Angriff über. Dann hat man als Besitzer ein großes Problem: Auf der einen Seite muss der Hund Sozialverhalten lernen und Kontakt zu anderen Hunden haben, auf der anderen Seite wollen wir auch keinen Hund gefährden. Ein sehr Zeit intensives und vorsichtiges Training ist die Folge.

Wenn ich es mit aggressiven Hunden zu tun bekomme, versuche ich für mich immer eine Einteilung in vier Gruppen:

  1. Aggressivität aus Angst
  2. Aggressivität aus totaler Selbstüberzeugung
  3. Aggressivität verursacht durch schlechte Erfahrungen
  4. Aggressivität weil der Mensch den Hund so gezüchtet hat

Natürlich überschneiden sich diese Punkte. Ein Hund kann vor Angst aggressiv reagieren, weil er schlechte Erfahrungen gemacht hat, aber gleichzeitig kann er auch aus einer Linie stammen, in denen alle „gerne mal schnappten“.

Richtig schwierig wird es bei Hunden, die möglichst alle Punkte irgendwo berühren. Sie sind selbstsicher und überzeugend dominant gegenüber kleinen Hunden, vor großen, schwarzen aber haben sie eher Angst aus schlechter Erfahrung. Dort reagieren sie zwar auch aggressiv, aber eben ganz anders.

Ich erinnere mich immer noch gut an die Zeit, als wir einmal vier große, aggressive Rüden in einer Gruppe hatten. Der eine griff andere Rüden an, erwischte aber auch schon einmal eine Hündin. Der nächste mochte keine Rüden, brummte aber auch schon einmal die Besitzerin an. Während der eine ein selbstbewusster Hund war, handelte der andere aus purer Verzweiflung.

Eine nicht ganz einfache Mischung, aber trotzdem waren sie doch ähnlich zu behandeln und ein gemeinsames Training möglich. Gefährlich waren sie alle, denn auch ein Hund, der „nur“ auf Hunde geht (schlimm genug, aber einige Menschen sehen das ja anders), kann Menschen beißen. Das Problem bei aggressiven Hunden ist ihre rote Phase, in der sie nichts mehr wahrnehmen. Sie schnappen oder beißen wild um sich, auch wenn sie aus Versehen ihren eigenen Besitzer erwischen. Das bedeutete also für diese Gruppe, dass das Einhalten von Sicherheitsbestimmungen oberste Priorität hatte. Das Überschreiten bestimmter Markierungen und damit das Eindringen in eine kritische Zone des Nebenhundes konnten wir uns nicht erlauben. So haben wir jede einzelne Übung durchgesprochen und langsam, ganz langsam unsere Fortschritte gemacht.

Problematisch waren die Fußübungen an anderen Hunden vorbei. Wir mussten lernen, wie eng der Radius war, dem wir unseren eigenen, aber auch dem fremden Hund zumuten konnten. Hatten wir uns „verrannt“, lautete unsere Anweisung, sofort umzukehren, Blickkontakte zu unterbrechen und den gefährlichen Bereich zu verlassen.

Ich habe damals viel über Hunde gelernt. Zunächst mal über meinen, aber wie die Momente, in denen ich den Blick von meinen Hund abwenden konnte, länger wurden, auch über die anderen. Über ihre Unterschiede im Verhalten, wie sie reagierten und vor allem wann.

Zu den schwierigsten Übungen gehörte das frontale Zugehen auf einen der anderen Hunde zu. Man ging mit sehr viel Ablenkung los (Für meinen Hund bedeutete das eine ganze Handvoll Futter unter seine Nase zu halten und ständig einen Brocken nach dem anderen parat zu haben) und versuchte die Aufmerksamkeit des Hundes nicht eine Sekunde zu verlieren. Bei mir war immer ganz wichtig, dass der Hund keine Gelegenheit bekam loszugehen. Zwar konnte ich ihn dank des Haltis halten, aber ich brauchte kostbare Sekunden, um ihn vom anderen Hund wegzuziehen und dann mitunter noch Minuten, um ihn wieder so zu beruhigen, dass er auf ein Kommando reagierte. Danach durfte ich dann wieder bei Null anfangen. Also waren ganz kleine Schritte gefragt, dafür mit positivem Ausgang für mich, für meinen Hund und für die anderen. Denn wenn einer ausflippte, mussten die anderen oft mit darunter leiden. Wir waren alle nicht so belastbar, dass uns ein Geknurre des Anderen nicht interessierte – das haben wir erst viel später in Griff bekommen.

Es gibt jetzt sicher viele Leute, die dieses lange Üben in kurzen Schritten als unbrauchbar, weil eben so Zeitaufwendig, ansehen. Aber diese Hunde hatten nur noch diese eine Chance und es ging nicht nur darum, an dem Hund nebenan vorbei zu kommen, es ging darum, eine Beziehung zum eigenen Vierbeiner aufzubauen. Ihm das Gefühl zu geben, dass man als Rudelboß etwas taugt und es wert ist, dass man sich auf ihn verlässt. Den Hund zusammenzustauchen, wenn er bereits losgegangen war, hätte zu keinem Ergebnis geführt.

Das waren jetzt Extrembeispiele, aber es gibt ja auch noch andere. Der normal veranlagte, halbwüchsige Flegel neben mir, der einmal austesten will, ob er stärker als der andere ist. Natürlich bekommt er die Leviten von mir gelesen und das klar und deutlich. Aber auch hier zahlt es sich unbedingt aus, nicht zuviel auf einmal zu riskieren, dafür so schnell zu sein, dass man den Hund beim ersten kurzen Anstarren erwischt. Denn hier haben wir oft den Vorteil, dass dieses Hunde nach dem Bilderbuchschema reagieren und sich langsam steif machen, die Rute hoch nehmen usw.

Sehr selbstbewusste Hunde erkennt man schon früh. In einer meiner letzten Welpengruppen war eine Hündin, die nur das Spiel kannte, andere Welpen zu attackieren. Einmal erschien sie später und mein erwachsener „Ersatzpapa“ war bereits zugegen. So schnell wie er sich dieses Hündin, die er nicht bisher nicht kannte, herausgriff und zusammenstauchte, konnte ich kaum gucken. Aber die Behandlung wirkte sofort und die Hündin wurde erträglich. Leider waren die Besitzer nicht so konsequent wie mein Rüde und bei dieser Kombination (selbstbewusster Hund/inkonsequenter Rudelführer) sind ernsthafte Probleme vorprogrammiert.

Spezialzuchtschauen für eine Hunderasse sind eine tolle Gelegenheit, aggressives Verhalten zu studieren. Da gibt es die Hunde aus Linien, die stets ruhig und gelassen sind. Auch die Rüden in der Jugendklasse haben kein Problem damit, neben einem fremden Nebenbuhler zu stehen. Vielleicht riskieren sie einmal einen kleinen Blick, aber eine kurze Ermahnung des aufmerksamen Besitzers genügt und alles bleibt ruhig. Und dann gibt es noch das krasse Gegenbeispiel: Junge Hunde von sechs Monaten, die wie ihre Geschwister bereits alles angehen, was daherkommt. Bei Hunden um die zwei Jahre geht?s dann manchmal hoch her im Ring! Beobachtet man das Verhalten mancher Züchter, stellt man fest, dass die das sogar noch gut und normal finden. Der betroffene Hundehalter sieht das sicher anders.

Diese Bemerkungen zum Thema „aggressiver Hund“ sind natürlich nicht vollständig. Es dürfte auch unmöglich sein, „Gebrauchsanleitungen“ für Betroffene zu schreiben. Zu unterschiedlich ist das Verhalten der Hunde und Menschen, zu vielschichtig die Gründe. Wichtig ist aber, dass wir wissen, dass der Umgang mit diesen Hunden schnell gefährlich werden kann. Weil die Besitzer der Angelegenheit nicht die nötige Aufmerksamkeit zollen, zu wenig über Hundeverhalten wissen, zu leichtsinnig sind und zu schnell Erfolge sehen wollen. In Deutschland werden nach wie vor viele Hunde eingeschläfert, weil sie unberechenbar sind. Nur in ganz wenigen Fällen ist dies der wahre Grund (z.B. eine unheilbare Krankheit), denn die meisten Hunde geben nur das wieder, was ihre Menschen aus ihnen machen..

[erschienen in der Hunde Revue 1999]