Tim (2. Teil)
Mit Tim in einer Gruppe auf der Wiese zu üben, war natürlich Illusion. Wenn ich kam, musste alles auf Abstand gehen, denn der geringste Anlass genügte für Tim, um hysterisch und aggressiv wie eine Rakete zu starten. Dabei bedachte er mich nach 18 Monaten Leben bei uns mit der letzten Gemeinheit: Erregte er sich zu sehr und geriet in Panik, drehte er sich um und packte meinen Arm als Blitzableiter. Wenn ich einen letzten Beweis für seine versuchte Schutzdienstkarriere brauchte, hier hatte ich ihn. Ich konnte von Glück sagen, dass Tim so lange brauchte, um dieses Verhalten zu zeigen, in der Anfangsphase hätte er garantiert keine Beißhemmung gezeigt und wäre vermutlich eingeschläfert worden. Aber ich möchte nicht falsch verstanden werden: Schutzdienst ist für mich nicht falsch oder schlecht, aber ich verdamme jeden Hundeplatz, der eine „Ausbildung“ mit ungeeigneten Menschen oder Hunden ermöglicht. Das ist dann wirklich ein Zusammenschlagen und Befürworten eines unberechenbaren Hundes, der für seine Welt nicht zumutbar ist – mal von der Tierquälerei abgesehen. Bei Tim wissen wir nicht, ob er auf einem Hundeplatz seine schlechten Erfahrungen sammelte oder in einem Hinterhof, bei anderen Hunden bin ich besser informiert gewesen.
Wenn Tim meinen Arm packte, war er wie von Sinnen. Er spürte keine Schmerzen mehr und meine Stimme kam nicht bis zu ihm durch. Manchmal genügte eine falsche Handbewegung oder ein Ruck an der Leine und er fuhr schon mit einem wütenden Aufschrei rum. Für mich war dieses Verhalten der schlimmste Rückschlag, den ich mit diesem Hund verkraften musste. Da hatte man monatelang so viel Zeit investiert und jetzt griff der eigene Hund einen an! Mir liefen nicht nur einmal die Tränen übers Gesicht – weniger aus Angst sondern vor Wut und Enttäuschung.
Besonders schlimm war es, wenn Tim losging, obwohl die Situation zu vermeiden gewesen wäre. Ich ging spazieren und trotz Aufforderung leinte jemand seinen Hund nicht an und der kam Tim zu nahe – ich musste dafür büßen. Manche Hundebesitzer sind unglaublich egoistisch und ich und mein Hund erlitten dadurch wieder einmal einen Rückfall. Oft war ich in Versuchung, Tim einfach abzuleinen, aber das konnte ich nicht riskieren. Wäre plötzlich ein Kind um die Ecke gebogen, es hätte mit ziemlicher Sicherheit Verletzte gegeben.
Tim war schon lange Zeit bei uns, als ich einmal allein auf der Wiese mit ihm war. Der Labrador, der am hinteren Teil der Wiese vorbeiging, war zwar fast 200 Meter von uns entfernt, aber es war bereits zu spät. Tim hatte ihn gesehen, startete und rannte in einem Höllentempo auf den Zaun zu. Ich bekam Angst. Der haut den ganzen Zaun zu Bruch, dachte ich. Der weiß mal wieder überhaupt nicht, war er da macht!
Aber es kam anders. Der Labrador hatte einen unwiderstehlichen Charme und Tim reagierte zum allerersten Mal nicht so wie sonst. Er bremste, stand sekundenlang steif wie ein Denkmal und fing auf einmal an zu wedeln. Er freut sich, dachte ich. Er freut sich tatsächlich, einen Hund zu sehen! An diesem Tag heulte ich auch.
Aber wedeln und spielen sind zwei paar Schuhe und wieder fragte ich mich, ob Tim überhaupt soviel Sozialverhalten hatte, dass die anderen Hunde mit ihm spielten und ihn nicht in Stücke rissen.
Ich probierte es das erste Mal auf der Wiese mit einem jungen, robusten Rüden. Ihn kannte Tim schon lange und es hatte sich so etwas wie eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt. Wir ließen die beiden von der Leine, in der Hoffnung, es würde schon gut gehen. Tim bellte die ganze Zeit, packte seinen Freund sehr oft in die Beine oder in den Nacken und war verständlicherweise überaus aufgeregt. Aber es war ein Anfang und ich schwor mir, nicht aufzugeben.
Zwei Jahre dauerte es, dann hatte Tim zum ersten Mal Liebeskummer. Er jammerte und schnüffelte und was andere Rüdenbesitzer zur Verzweiflung bringt, konnte mir nur ein freudiges Lachen entlocken. Kein Zweifel – Tim würde ein normaler Hund werden!
Tatsächlich erreichten wir diese Erfolge mit Hunden schneller als mit Menschen. Wenn Tim mit einem anderen Hund spielte, musste der Besitzer wie eine Statue stehenbleiben, um ihn nicht zu provozieren. Erst im dritten Sommer begann er sich für Menschen zu interessieren. Er wurde neugierig, aber es war gefährlich, zuviel zu riskieren. Einmal schossen wir auf der Wiese und selbst als Tim garantiert nicht gesehen hatte, wer die Pistole in der Hand hielt, wusste er es innerhalb von Sekunden. Er fixierte den Menschen mit soviel Hass, das war pure „Mordlust“ in seinen Augen! Es reichte allerdings auch, wenn einer in der Tür zur Bude stand. Irgendwie wirkte er bedrohlich und Tim bellte los.
Trotzdem, er wurde sicherer und in diesem Sommer machte ich eines Tages einen Vorschlag. Alle Leute, die sich trauten, blieben weit verstreut auf der Wiese stehen, die Hände und Taschen voller Futter. Ich ließ Tim von der Leine und der erste rief ihn. Hastig nahm er das Futterstück, dann wurde er bereits unsicher. Sofort rief ihn der nächste und so fort. Diese Methode zeigte bald Erfolg, zumindest bei einer ganzen Reihe von Menschen. Bei anderen dagegen hatten wir keine Chance: Meist war es die Stimme, die Tim misstrauisch machte und damit begann ein neues Problem.
Tim fühlte sich mittlerweile zu Hause und auf der Wiese heimisch. Er fing an sie gegen Störenfriede massiv zu bekämpfen. Vor dem Hovawartrüden und der Frau mit der hohen, für ihn unangenehmen Stimme kriegte er Panik. Und die zeigte sich natürlich auf Tims eigene Art.
Ich stand auf der Wiese und übte intensiv. In über 300m Entfernung bog oben der Wagen mit Frau und Hund um die Ecke und Tim hielt kurz die Nase in die Luft und flippte aus. Diesmal war es schlimm. Er schnappte nicht nur einmal nach meinem Arm, sondern hielt ihn fest, packte nach und es dauerte Minuten, bis ich ihn unter Kontrolle und auf alle vier Beine brachte. Helfen konnte mir nie einer, es durfte ja keiner an Tim heran. Und das Halti konnte mir auch nur bedingt nützlich sein, denn Tim war einfach unglaublich schnell. Fixieren gab es bei ihm kaum.
Es ging schließlich soweit, dass ich selbst am leeren Auto besagter Frau nicht mehr vorbeikam. Der Geruch genügte für Tim als Signal. Das Gleiche passierte auch mit einer anderen Frau/Hundkombination. Es war über eine halbe Stunde her, dass dieses Paar auf dem Feldweg gewesen war, ebenso lang war es her, dass ich Tim ins Auto zur Pause gebracht hatte. Jetzt öffnete ich nur die Tür und Tim ging auf mich los. Dieses eine Mal auch in Richtung meines Gesichtes, weil ich mich auf gleicher Höhe befand. Ich brüllte ihn an, dann schaffte ich es, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Es ist außer ein paar schmerzhaften blauen Flecken – wie sonst auch – nichts passiert, aber das war der Punkt, an dem ich wieder neu organisieren musste.
Die Begegnung mit diesen zwei Personen schenkte ich mir von da ab. Ich sah ein, dass ich dafür einfach nicht die Nerven aufbrachte, zumal beide Angst vor Tim hatten. Zweitens ließen wir das Halti weg. Es war der Griff zum Halti gewesen, der Tim zum Angriff animierte. Ich konnte es nicht riskieren, diesen Handgriff zum Auslöser zu machen. Vielleicht war es einfach inzwischen zuviel Druck für Tim, vielleicht gab er sich ohne Halti besser. Er fühlte sich beengt – und das war im Grunde in fast jeder Situation unser Hauptproblem!
Konnten wir Tim auf der Straße halten? Wir konnten. Zunächst fixierte er jeden Menschen, der uns entgegenkam, aber das wurde weniger und hörte schließlich ganz auf. Tim ist intelligent. Er hört sehr gut auf Kommandos, weil es ihm Spaß macht zu arbeiten. So übten wir auf den Feldwegen, Straßen und später sogar auf Parkplätzen großer Supermärkte. Fuß, Sitz, Platz und auch Rechts (rechts bei Fuß gehen), wenn es eng wurde. Tim sah dies tatsächlich als Hilfe an. Wenn ich Kinder auftauchen sah, war Tim dankbar, wenn er nicht direkt neben ihnen laufen musste und ich war unsagbar froh, dass er das so sah!
Sein Verhalten gegenüber Hunden, die er kannte, wurde immer besser. Es ist kaum zu glauben, aber dieser Rüde ist ein viel größerer Gentleman, als viele „normale“ Hunde es jemals sein werden. Tim hat ein ausgeprägtes Sozialverhalten, beherrscht inzwischen jede Spielaufforderung perfekt und hat ein herrliches Spielgesicht. Mag der andere Hund nicht mehr, so zieht er sich zurück, ohne aufdringlich zu werden. So kam es zur letzten großen Veränderung in Tims Leben. Vor fast zwei Jahren bezog ein acht Wochen alter Briardrüde unser Haus. Tim war beleidigt, sowas ihm und das mit zehneinhalb Jahren! Aber ich hatte mittlerweile ein unschätzbares Vertrauen in diesen Hund und ich behielt recht. Nach einer Woche übernahm Tim die Erziehung von Balzak, da ich mich ja so blöd anstellte!
Er spielte mit dem kleinen Knirps, wies ihn in – für Menschen unverständlichen – Situationen in der richtigen Dosis zurecht und machte ihn zu einem sehr guten Wachhund. So haben wir heute ein Bild, über das ich immer noch staunen kann: Tim im Hintergrund mit halboffenen Augen schlafend und Balzak an der Tür mit einem leisen „Wuff“. Und mir kann einer sagen, was er will: Tim lobt in diesem Augenblick seinen Schüler: „Haste gut gemacht, Kleiner!“
Jetzt ist Tim also über zwölf Jahre alt. Was haben wir alles geschafft? Viel, aber nicht alles. Zehnmal ist er von Hunden in seiner Wohngegend angegriffen worden. Es war nicht möglich, ihm hier ein sicheres Verhalten anzuerziehen. Hunde, die er nicht kennt oder die zurückbellen, macht auch er an. Dabei ist es völlig gleichgültig, ob es sich um einen Rüden oder eine Hündin handelt. Hunde, die sichtbar nicht in der Hand ihres Führers stehen, werden sofort fixiert und beim geringsten „Fehlverhalten“ angebellt. Auf der Wiese läuft er dafür mit völlig unterschiedlichen Hunden problemlos in der Gruppe, dort ist ihm ja auch nie etwas passiert. Ich könnte ihn an jeden verträglichen Hund gewöhnen.
In puncto Gruppenarbeit und „Unterordnung“ ist er ein Alleskönner geworden. Er hat gerne und sehr genau gearbeitet – zum Schluss ohne Leine in Anwesenheit von zwanzig Hunden auf Zentimeterabstand. Jetzt will er nicht mehr. Futterspiele ja, aber schon das Hinsetzen fällt ihm schwer, also lassen wir es sein.
Tim war oft todkrank, aber wirklich so, dass alle inklusive Arzt meinten, jetzt wäre Schluss. Arthrosen in allen Gelenken war das erste, aber eine Kur mit Muschelkalk über zwei Jahre machte ihn beschwerdefrei bis heute! Dann vertrug er kein Futter mehr, hatte furchtbaren Durchfall – Niere und Leber spielten nicht mehr mit. Auch das haben wir völlig im Griff. Seit Jahren frisst Tim wieder das, war ihm schmeckt. Auch Schlaganfälle sind für Tim kein Grund, um klein beizugeben. Vor einigen Wochen entdeckten wir eine Geschwulst am Bauch, die schnell wuchs und schließlich von Tim aufgeleckt wurde. Wir behandelten ihn mit Salbenverbänden, denn operieren lassen will ich ihn nicht mehr. Es wurde nicht besser, sondern schlimmer. Ich hatte den Hörer schon in der Hand, um einen endgültigen Termin zu machen. Da guckte mich dieser Hund wieder an. Der Blick Richtung Keksdose, freudig wedelnd. Verdammt, das kann ich doch nicht machen!
Ich habe ihm gedroht, wie schon sooft. Lass die Schleckerei sein und lass das T-Shirt an! Wir haben es wieder geschafft, das Ding ist zu und wird kleiner. Wie lange weiß ich nicht, aber Tim läuft nach wie vor noch viermal am Tag, fordert Balzak zum Spiel heraus und frisst für drei!
Ich muss wieder an unsere Anfangszeit denken. Die Show, als ich Tim „Aus“ beibringen musste. Doppelt gesicherte Leinen, in der einen Hand einen Knochen und zum Tauschgeschäft ein besonders leckeres Stück Wurst in der anderen. Ich hatte das Herz in der Hose, aber Tim ging schon auf mich los, wenn ich zufällig die Tür öffnete und er seinen Keks nicht gefressen hatte. Also musste etwas geschehen. Wir haben täglich geübt. „Nein!“ – du gehst an dem Knochen vorbei. Jetzt „Nimm schön!“ und „Aus!“, zum Tausch erhält er die Wurst. Auch dieses Üben hat Wochen gedauert und musste vor allem regelmäßig wiederholt worden. Auch heute versteht Tim in Sachen Futter keinen Spaß, Balzak muss da sehr aufpassen. Aber der Kleine hat etwas geschafft, was wir nicht schafften. Er liegt direkt neben Tims Rute und manchmal tritt er sogar drauf.
Tim fährt noch immer gerne Auto. Eine Box brauchen wir nicht mehr und das Einsteigen fällt schwer, aber nur mit Frauchen ohne Leine über die Feldwege spazieren, das macht Spaß. Manchmal wandert der Blick noch in den Himmel, er starrt die Streifen an. Nein, wegen sowas regen wir uns nicht mehr auf. Die Rute zuckt einmal nach oben, dann trabt er weiter. Er hat nach wie vor den Gang eines Arabers. Am Jogger geht er so vorbei und die alte Kuh am Zaun schleckt er kurz über die Nase. Dann dreht er sich um und läuft wieder zurück. Frauchen, es reicht – inzwischen entscheidet er selbst, wann er nicht mehr will.
Tim hat heute viele Freunde, die er beständig und ohne Falschheit liebt. Aber so war es immer: Hatte er einmal Vertrauen gefasst, dann konnte man sich darauf verlassen. Nur die Geschwindigkeit, mit der er jemanden vertraut, hat sich verändert: Er lag schon vor wildfremden Menschen auf dem Rücken und ließ sich kraulen!
[erschienen 1997 in MEIN HUND]
Nachtrag:
Tim wurde im März 1997 mit über 13 Jahren eingeschläfert, nachdem er fast ein Jahr lang eigentlich nur noch fit war. Bis zum Schluss war er der Boss im Haus, konnte problemlos aufstehen und seine Runden drehen. Erst zwei Wochen vor seinem Tod begannen seine Augen sich zu verändern, er fraß und trank nichts mehr und wollte nicht mehr raus.
Balzak und ich haben lange gebraucht, unser gemeinsames Leben ohne Tim neu aufzubauen. Als echter Briard hat Balzak keine Gelegenheit ausgelassen, uns mit Sturheit, Temperament und Konzentrationsschwächen (das Kommando habe ich noch nie gehört) auf die Probe zu stellen. Heute liebe ich unsere gemeinsamen Turnier- und Seminarbesuche ohne Stress und Ausflipperei. Jetzt ist er auch schon 5 Jahre und vielleicht gönnt mir das Schicksal in ein paar Jahren noch einmal die schöne Situation eines älteren Vierbeiners und eines neu hinzugekommenen…was auch immer!